Rundbrief 20.12.2024
Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU
Zu Besuch in Kyiv merke ich, wie sich meine Freunde hier mit dem seit bald drei Jahren andauernden Krieg arrangiert haben - und wie müde sie davon auch sind. Wenn (fast immer nachts) Shaheds in ihre Richtung fliegen, wechseln sie aus dem Schlafzimmer in den Korridor. Auf angekündigten Raketenbeschuss reagieren sie nicht, die Zeit ist zu kurz. (Das sagten sie gestern. Heute morgen haben die Russen etwa zehn Raketen verschiedener Art auf die Hauptstadt abgeschossen, und eine Reihe von lauten Knallen mitsamt Erschütterungen waren zu vernehmen. Wir haben den frühen Morgen gemeinsam im Korridor der Wohnung im 12. Stock verbracht. Es wird von Verletzten berichtet, hoffentlich keine Toten.) Vor kurzem wurde die Kinderklinik ganz in ihrer Nähe von einer Rakete getroffen. Auch in Transkarpatien hatten wir vor ein paar Tagen, erstmals seit 2022, einen direkten Raketenbeschuss. Die Ziele waren offenbar Umspannwerke. Soweit uns bekannt ist, gab es keine grösseren Schäden. Der Strom wird nach den Beschüssen länger abgeschaltet, in den vergangenen Tagen waren wir aber durchgehend versorgt.
Der Kommandant der ukrainischen Landstreitkräfte wurde ausgewechselt. Der neue Mann hat einen sehr guten Ruf und grosse Reformvorhaben. Unter anderem will er die Rekrutierung neuer Soldaten völlig neu gestalten. Das wäre höchste Zeit, denn die zuständige, notorisch korrupte Behörde hat sich mit den häufig brutalen und willkürlichen Zwangsrekrutierungen richtiggehend verhasst gemacht.
Aus den unmittelbaren Kriegsgebieten fliehen weiterhin Menschen. Im Oktober hat sich in unserer Nachbarschaft ein Ehepaar mit fünf Kindern angesiedelt. Sie stammen aus dem Dorf Yanivka in der Region Sumy, 16 km von der russischen Grenze entfernt. Nachdem die Dorfschule von einer Gleitbombe zerstört worden war, entschloss sich diese Familie zur Flucht, viele ihrer Verwandten leben aber weiterhin in der Region. Unser Freund Slava aus Nyzhne Selyshche hatte Yura und Ira kennengelernt, als er mit seiner Einheit in diesem Dorf stationiert war und sie eingeladen, im Ernstfall zu uns zu kommen. Wir helfen ihnen für einen Neuanfang, denn an eine Rückkehr in ihre Heimat glauben sie nicht.
Redaktion: Jürgen Kräftner, NeSTU Transkarpatien, Kooperative Longo mai
Frohe und friedliche Weihnachten!
Kinder und Jugendliche aus den Kriegsgebieten der Ukraine haben ein Recht auf eine Zukunft. Sie brauchen Hilfe, um ihre Trauma zu überwinden und Kräfte dafür zu sammeln, ihren Weg durch Chaos und Gewalt zu finden. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen in der Ukraine haben wir uns dies zur hauptsächlichen Aufgabe gemacht. Wir wollen auch im kommenden, neuen Jahr zahlreiche Initiativen unterstützen und sind allen unseren Freunden und Freundinnen in der Schweiz sehr dankbar für ihr Vertrauen und ihre Hilfe. Unser Spendenkonto finden Sie am Ende dieses Rundbriefs.
Unser Weihnachtsgrussflyer
In diesem Rundbrief:
Eine neue Video vom Kammerchor Cantus
Die Hudaki Village Band arbeitet an ihrer neuen CD und hat ein paar kurze Ausschnitte veröffentlicht, hier zu finden.
In der Schweiz wird in der letzten Zeit über grosse Romafamilien aus Transkarpatien geklagt, die als "falsche Flüchtlinge" die kantonalen Sozialsysteme an den Anschlag bringen. Wir berichten darüber, wie sie in Transkarpatien leben und über die Arbeit von Rada Kalandiia von der Frauenselbsthilfegruppe Chiricli in Mukatschewo.
Zwei Leseempfehlungen:
Ein Interview mit Maksym Butkevych in der Berliner Tageszeitung TAZ, er spricht über seine Zeit als Kriegsgefangener und seine Botschaft an westliche "Pazifisten".
Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat berechnet, wieviel die westlichen Staaten tatsächlich für die Ukraine ausgeben, und was es kosten würde, die Ukraine nicht mehr zu unterstützen. Der fundierte und aufschlussreiche Bericht ist hier zu finden (pdf).
Zur Erinnerung: Die Jahresversammlung von NeSTU findet am Samstag, 5. April in Luzern statt. Wir erwarten eine Delegation aus der Ukraine. Auch Nichtmitglieder sind gerne gesehen.
Kammerchor Cantus - Uzhhorod.
Istvan Marton „Wenn der Stern hell strahlt“, Solistin Oksana Shcherbata
Klingende Weihnachtsgrüsse vom Kammerchor CANTUS aus Uzhhorod
Die 14. Konzerttournee von CANTUS steht fest, sie findet vom 17. Oktober - 2. November 2025 unter dem Titel "Hoffnung - Надія " statt. Die Schweizer Tournee ist eine kostbare Tradition, die CANTUS Hoffnung und Zuversicht auf seine Zukunft gibt. Der andauernde Krieg belastet den Alltag auch zunehmend in Transkarpatien. Die Sängerinnen und Sänger proben trotzdem regelmässig und haben im 2024 viele kleine Städte und Dörfer mit ihrer Musik besuchen können: Sie schenkten den Zuhörern damit wenigstens für eine kurze Zeit Hoffnung.
Mit dieser kleinen Aufnahme wünscht CANTUS allen seinen Schweizer Freund:innen friedliche Weihnachten und freut sich auf das Wiedersehen im Neuen Jahr! Die Aufnahme stammt vom letzten Konzert, das am 15. Dezember in der (für viele Uzhhorod-Kenner bekannten) Kathedrale stattgefunden hat. Zu hören sind drei vom transkarpatischen Komponisten Ishtvan Márton bearbeitete Weihnachtslieder.
Das Tourneeteam: Livia Enzler, Krisztina Szakács, Ursula Stamm
Eine Tasse Kaffee pro Monat für die Ukraine?
Diese Grafik stammt aus einer im vergangenen November veröffentlichten Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und zeigt, wieviele Tassen Kaffee die Bevölkerung verschiedener Staaten monatlich zugunsten der Ukraine ausgibt. Der gesamte Bericht ist hier zu finden (in deutscher Sprache).
Aus Yanivka, Sumy, nach Nyzhne Selyshche
Die Familie Voloshyn ist aus Yanivka, Region Sumy geflüchtet und lebt nun am Dorfrand von Nyzhne Selyshche, vorläufig in einem kleinen, alten Haus, dass der siebenköpfigen Familie gratis zu Verfügung gestellt wurde. NeSTU konnte dem Familienvater Yura dank der grosszügigen Spende der Firma Tern ein Lastenfahrrad überlassen, das ihm den vier Kilometer langen Weg zur Arbeit in der Dorfschule erleichtert.
Neben seiner Arbeit als Heizer in der Dorfschule findet Yura auch noch Zeit, um im Obstgarten von Longo mai Hand anzulegen. Der liegt praktisch vor seiner Haustür.
Romainitiative Chiricli in Mukatschewo
Seit einigen Monaten wird in der Schweiz regelmässig über grosse Romafamilien aus Transkarpatien berichtet, die um Flüchtlingsstatus ansuchen und die sozialen Einrichtungen "strapazieren". Die daraus entstehende Diskussion wollen wir hier nicht kommentieren, uns interessiert, wo diese Roma herkommen und wie sie hier leben.
Vor allem geht es um die Initiative Chiricli, die Rada Kalandiia gemeinsam mit ihrem Mann Edvard in Mukatschewo ins Leben gerufen hat.
Foto oben: Rada Kalandiia (rechts) von der Initiative Chiricli, und die Juristin ihrer Organisation, Tania
In Transkarpatien leben zehntausende Roma, verteilt auf fast die gesamte Oblast. Ihre genaue Anzahl ist unmöglich in Erfahrung zu bringen. Viele Roma sind als Ungarn registriert. Besonders viele von ihnen leben in der Nähe der ungarischen Grenze. Die Romasiedlung von Mukatschewo, man könnte sie auch als Gettho bezeichnen, zählte vor dem Krieg etwa 15'000 Bewohner und Bewohnerinnen. Die Mehrheit von ihnen lebt in katastrophaler Armut. Sie sind Analphabeten, viele haben keine Dokumente, wissen zum Teil nicht einmal ihr Geburtsdatum und sprechen ausschliesslich ungarisch. Hunger und Tuberkulose grassieren.
Foto oben: Romamädchen beim Unterricht im Integrationszentrum Romodrom. Sie hatten Spass an den lustigen Hüten, die sie vor der Schulstunde im Second-Hand-Lager von Romodrom gefunden hatten.
Nun gibt es einen Hoffnungsschimmer, und den hat paradoxerweise der Krieg geliefert. Eine Gruppe von Roma musste wegen der russischen Invasion aus der Stadt Vuhledar im Donbas flüchten und hat sich 2022 in Mukatschewo niedergelassen. Zum Unterschied zu den verarmten Roma von Mukatschewo waren diese Menschen im Donbas gut integriert, gebildet und vergleichsweise wohlhabend. Rada Kalandiia gehört zu dieser Gruppe. Ihr Vater war eine führende Persönlichkeit der Roma im Donbas. Als Rada die Lebensumstände im Gettho von Mukatschewo gesehen hat, war sie schockiert und hat beschlossen, etwas zu tun. Sie hat sich dafür die Unterstützung verschiedener spezialisierter Hllfswerke gesichert und ein "soziales Integrationszentrum" am Rande des Romaviertels geöffnet. Kinder verschiedenen Alters, die bisher nie in die Schule gegangen sind, lernen hier lesen, schreiben und rechnen, Zehnjährige erfahren zum ersten Mal in ihrem Leben, was eine Dusche ist oder wozu ein Kamm nützlich sein kann. Motivierend ist für die Eltern, dass die Familien der Kinder, die in diese improvisierte Schule kommen, ab und zu Lebensmittel und andere humanitäre Hilfe bekommen.
Rada konnte eine einheimische Juristin, Tania, eine Nichtroma, dafür gewinnen, diesen rechtlosen Menschen zu Pässen, Geburtsurkunden und anderen Dokumenten zu verhelfen. Viele Roma wissen so gut wie nichts über ihre Bürgerrechte.
Leider gibt es auch viel Missbrauch innerhalb der Gemeinde. Reichere Roma gewähren Mikrokredite zu Wucherzinsen. Für 1'000 Hryvna (23 Franken) müssen nach Monatsfrist 1'800 Hryvna zurückbezahlt werden, sonst ist das hinterlegte Dokument weg. Ohne Dokument (zum Beispiel eine Geburtsurkunde) gibt es keine Sozialhilfe vom Staat. Mit all diesen Problemen kämpft Rada und ihr Team, zum Beispiel Gaspar, ein etwas bessergestellter einheimischer Roma, der bei der Verteilung von Hilfsgütern dabei ist.
Wir sind sehr froh über diese Initiative und wollen Chiricli nach Kräften unterstützen. Diese Roma haben, so sagt Rada, schon lange ihren eigenen Krieg, ein Kampf ums nackte Überleben, der jeden Morgen von Neuem beginnt.
Fotos von im Krieg gefallenen Soldaten aus der Mukatschewer Romagemeinde im Integrationszenrum Romodrom
Kontakt zu NeSTU:
Salome Stalder - Martin, Dipl Forst-Ing. ETH, Mürgstrasse 6, 6370 Stans
E-Mail: info(at)nestu.org. Natel: 078 770 23 43
Spendenkonto NeSTU:
Raiffeisenbank Nidwalden, 6370 Stans
IBAN: CH69 8080 8008 0940 4940 2
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