Rundbrief 13.10.2023

Link zum Rundbrief

Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU

Es sind noch wenige Tage bis zur Tournee des Kammerchors CANTUS in der Schweiz. Bereits am Donnerstagabend 19.10. wird der Chor in Melchtal eintreffen, am Freitag startet die Tournee mit dem Chorworkshop. Das erste Konzert erklingt am Sonntag in Stans. Die Tourneedaten sind hier zu finden. Wir hoffen auf zahlreiches Publikum und freuen uns über jede Hilfe beim Werben für die Konzerte. Mehr über CANTUS ist auf unserer Website zu erfahren.

Samstag, 28. Oktober, 18 - 21 Uhr, Eröffnung der Ausstellung Vidkrytky im Freiwerk Basel. Kinder, die vom Krieg Russlands gegen die Ukraine betroffen sind, gestalten ihre individuellen Postkarten. Zum Flyer (PDF)
Die drei ukrainischen Künstler.innen, die das Projekt initiiert haben, werden anwesend sein, auch mehrere Vorstandsmitglieder von NeSTU werden teilnehmen. Hier nochmals der Bericht vom letzten Einsatz in Kramatorsk. Wir wollen den Anlass auch nutzen, um über die Art-Camps in Nyzhne Selyshche zu informieren.
Dauer der Ausstellung: 28.10. - 28.11.2023
Öffnungszeiten
Mittwoch - Freitag: 14-20h
Samstag: 10-20h
Sonntag: 10-18 Uhr

Verein Freiwerk, Basel
Elsässerstrasse 215 | 4056

Ein Lesetipp: Der polnischen Schriftsteller Szczepan Twardoch hat viel Zeit im ukrainischen Kriegsgebiet verbracht und zitiert in seinem Essay einen der Soldaten, mit denen er gesprochen hat: Dieser Krieg ist für immer (PDF).

Dieser Rundbrief ist in erster Linie einem Interview mit der Leiterin des Medizinischen Hilfskomitees Transkarpatien CAMZ gewidmet. Nataliya Kabatsiy und ihr Team leisten eine kolossale Arbeit und wir sind froh über unsere Kollaboration und Freundschaft.
Verfasser dieses Rundbriefs: Jürgen Kräftner, NeSTU und Longo mai Ukraine.
 

Die Eröffnung der Ausstellung am 28.10. im Basler Freiwerk wird auch musikalisch begleitet. Ab 22 Uhr treten zwei Musiker aus dem seit 2014 besetzten Donezk auf. Hier deren Selbstpräsentation:
Wir sind Pavel und Anton, Musiker und DJs aus Donezk. Unsere Geschichte begann damit, dass wir in den besetzten Gebieten illegale Raves namens "PRIZMA" organisierten. Dort schufen wir einzigartige musikalische Welten, in denen die Menschen die harten Zeiten vergessen konnten. Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine zwang uns, unsere Heimat zu verlassen, und wir verloren unser Zuhause und die Möglichkeit, an unserem Lieblingsort Musik zu machen.
Heute tragen wir unser musikalisches Erbe durch die monatliche Sendung "Sound of BOCTOK" weiter, die vom Label VOSTOK unter Mitwirkung von Anton auf RBL Radio organisiert wird. Unser Ziel ist es, die Kulturszene der Ostukraine zu präsentieren und Künstler aus dieser Industrieregion trotz ihrer erzwungenen Umsiedlung in verschiedene Teile der Welt zu vereinen.
Die Teilnahme an dieser Ausstellung ist unsere Art, unsere Geschichte mit anderen zu teilen und auf eine strahlende Zukunft zu hoffen, die sicherlich eines Tages kommen wird, wenn unser Heimatland seinen Frieden wiedergefunden hat und die Musik unsere Häuser wieder mit ihrem Klang erfüllt.


Vielfältiges Erbe und bedrängte Gegenwart
Der Kammerchor Cantus auf Tournee in der Schweiz, 22. Oktober - 5. November

Dirigent Emil Sokach zum diesjährigen Programm:
Es sind die Gedanken, Gefühle und Erfahrungen aus eintausend Jahren, die sich in der Auswahl dieser Musikstücke verdichten. Die Geschichte der Ukraine ist geprägt von Kampf und Sehnsucht, von Begeisterung und Verzweiflung sowie von Niederlagen und Siegen. Aus den tiefsten Empfindungen der Menschen wuchs so eine reiche und vielschichtige Kulturlandschaft. In einer historischen Retrospektive kann so die Nationenbildung der Ukraine verstanden werden.
Immer bewegte die Menschen der Glaube an eine höhere Gerechtigkeit dazu, sich im Gebet an Gott zu wenden, Segen zu empfangen und im Glauben Trost zu suchen. Die geistliche Musik, von einer Generation an die nächste weitergegeben, enthält unermessliche Schätze, ganz wie die uralte sakrale Architektur der Ukraine.
Die Frauen und Männer in der Ukraine sangen seit jeher von Liebe und Freundschaft, von der Liebe zum Vaterland, zum Gedenken an ihre Helden. Von vielen dieser Lieder, mittlerweile tief verankert im Gedächtnis des Volkes, wissen wir nichts über ihre Herkunft oder Entstehung. Sie stammen aus längst vergangenen Epochen der Geschichte, doch wenn wir sie heute singen, beweisen sie ihren Wert auch in modernen Arrangements.

Unsere durch den Krieg verdunkelte Gegenwart, die vom Kampf um Unabhängigkeit, Menschenrechte und Freiheit geprägt ist, widerspiegelt sich in der Palette der Stimmungen dieser Stücke. Heute ist die Ukraine ein vielstimmiges Gebet, eine wiederbelebte Erinnerung, ein Glaube an das Beste und Hellste für jeden Menschen mit guten Absichten.
Spüren Sie mit uns in jedem Stück, in jeder Schwingung den „Klang des Himmels, die Stimmen der Erde“.
Tourneeflyer


Interview mit Nataliya Kabatsiy
Nataliya Kabatsiy, 43, für Freunde und Bekannte Natascha, ist Gründungs- und Vorstandsmitglied von NeSTU. Sie ist Philologin und hat Masterabschlüsse in Politikwissenschaften und Öffentlichem Gesundheitswesen. Seit über 20 Jahren leitet sie das Transkarpatische Komitee für Medizinische Hilfe CAMZ. Diese unabhängige ONG hat im Laufe der Zeit zahlreiche Projekte im regionalen Gesundheitswesen realisiert und besonders in der Betreuung von Menschen mit Behinderung eine Vorreiterrolle für die ganze Ukraine eingenommen. Dabei wird sie vom Schweizer Verein Parasolka massgeblich unterstützt.
Dank dieser vielschichtigen Erfahrung war das CAMZ zu Kriegsbeginn - auch mit der Unterstützung von NeSTU - in der Lage, dort zu helfen, wo es am dringendsten nötig war. Ich habe Natascha in ihrem Büro in Uzhhorod Anfang Oktober über ihre aktuellen Projekte und ihre Einschätzung zur Arbeit der internationalen Organisationen befragt.


 
JK: Bitte erzähle mir etwas über die Arbeit des CAMZ im zweiten Kriegsjahr.
 
NK: Ja, womit sollen wir anfangen. Seit einiger Zeit läuft ein umfangreiches Projekt zur Unterstützung für Schwangere in Transkarpatien. Viele Frauen und besonders Schwangere leiden unter Stress durch den Krieg, Vertreibung, ihre Männer sind im Krieg etc., sie brauchen psychologische Betreuung.
 
Und wir unterstützen zwei Partnerorganisationen in Uzhhorod und in Jasinya (ganz im Osten Transkarpatiens gelegen). Seit dem vergangenen Juni betreuen sie regelmässig Kinder von 8 bis 14 Jahren. Die Betreuung richtet sich bewusst sowohl an Kinder aus geflüchteten Familien und an Einheimische, damit sich niemand diskriminiert fühlt. Ausserdem fördert dies die Integration der Kinder aus den Kriegsgebieten in Transkarpatien. Es sind lokale Initiativen in den beiden Orten, die diese Projekte gestartet haben. Wir als CAMZ mit unserer Erfahrung und unseren vielen Kontakten im Ausland greifen diesen jungen Gruppierungen unter die Arme. Aber wir wollen natürlich, dass sie so schnell wie möglich unabhängig werden und den Kontakt mit ausländischen Geldgebern selber pflegen.
Die Anschubfinanzierung von NeSTU war hier sehr nützlich. Inzwischen hat sich die deutsche Sektion von Terre des Hommes längerfristig engagiert.
https://www.tdh.de/was-wir-tun/projekte/europa/ukraine/
 
Wir wollen keine Projektfabrik werden, immer mehr Mitarbeiterinnen einstellen und immer mehr Projekte leiten und verwalten. Besser, wir helfen jungen Initiativen dabei, Partnerorganisationen im Ausland zu finden, die sie direkt unterstützen. Wir helfen ihnen am Anfang in der Organisation und vor allem in der Kommunikation mit den internationalen Geldgebern, aber mit dem Ziel, dass sie in Zukunft völlig selbständig arbeiten können. Sie müssen lernen, zuverlässig Rechenschaft über die Verwendung der Gelder abzuliefern. Und sie müssen sich auf eine langfristige Organisationsform einstellen.
Eines Tages werden wir unser Land wieder aufbauen müssen, und dann brauchen wir unbedingt all diese lokalen, unabhängigen Initiativen.
 
Ausserdem verteilen wir Medikamente und Lebensmittel in den Frontregionen. Dafür arbeiten wir systematisch mit lokalen Organisationen. Wir haben im Osten der Ukraine keine eigenen Mitarbeiter.
 
 

JK: Wo und mit wem arbeitet ihr in diesen Gebieten?
 
NK: Diesen Monat haben wir in Zaporizhia gearbeitet, nächsten Monat liefern wir Hilfsgüter nach Cherson und Chernihiv. Anschliessend kommen Charkiw und Donetsk an die Reihe. In jeder Region haben wir eine oder mehrere Partnerorganisationen, denen wir die Verteilung anvertrauen. Für die Medikamente sind das auch die grossen Spitäler und zum Beispiel in Zaporizhia haben wir einen guten Kontakt zur städtischen Verwaltung, auch in Mykolajiw.
 
JK: Die Stadtverwaltung von Zaporizhia hat einen guten Ruf, sie hat auch viel Wohnraum für geflüchtete Familien zu Verfügung gestellt.
 
NK: Ja, unser Kontakt ist ausgezeichnet, die Stadtverwaltung hat dort auch fast von Anfang an Lebensmittel an Bedürftige verteilt. In Charkiw ist das anders, aber wir haben dort zumindest drei nichtstaatliche Organisationen, mit denen wir vertrauensvoll zusammenarbeiten. So können wir es uns ersparen, eigene Leute vor Ort zu entsenden.
 
JK: Wo kommen die Lebensmittel her?
 
NK: Wir schicken den lokalen Organisationen Geld und sie kaufen die Lebensmittel vor Ort und verteilen sie. In den meisten Fällen wäre es sinnlos, Lebensmittel weit zu transportieren. Wir bekommen jeweils detaillierte Abrechnungen, auch über die Empfänger.
 
JK: Aus dem Ausland kommt nichts mehr?
 
NK: Aus dem Ausland kommen weiterhin bestimmte Medikamente, medizinisches Material und Ausrüstung, Trockenmilchpräparate, ab und zu bekommen wir ein paar Paletten hochwertiger Babynahrung aus Frankreich.
 
Wir sehen jetzt, dass die meisten Spitäler überfüllt und überfordert sind. In den meisten Spitälern werden nun schwerverletzte Soldaten und Zivilisten behandelt, aber sie sind eigentlich dafür nicht ausgerüstet, z.B. haben sie keine Beatmungsgeräte und andere Ausrüstung für Intensivstationen. Unser Freund Jacques Duplessy, ein Mitbegründer unserer Organisation, sammelt in Frankreich medizinische Ausrüstung in grossem Stil und schickt regelmässig volle Sattelschlepper hierher.
 
Und dann betreuen wir drei Flüchtlingsunterkünfte in der Region. Die grösste ist in Tyachiv, dort leben jetzt 63 Personen. Eigentlich könnten dort bis zu 90 Personen leben, und so war es am Anfang auch, aber jetzt sind einige Leute in private Wohnungen in die Stadt umgezogen und andere haben die Region verlassen. Das hat auch Vorteile, denn wir haben nun separate Zimmer für jede Familie, es gibt zwei Zimmer in denen die Kinder spielen können und einen Aufenthaltsraum zum Lesen oder Fernsehen für die Erwachsenen. Vor kurzem haben wir das Dach komplett renoviert und mit Solarzellen ausgestattet. Das Flüchtlingsheim in Nyzhne Selyshche bekommt auch Solarzellen, um es bei den nächsten Stromausfällen etwas autonomer zu machen.
 

Foto oben: Genia Melesh ist Juristin beim CAMZ. Aber wenn Rollstühle verschickt werden, hilft sie auch mal im Lager.

JK: Welche Menschen leben jetzt in diesen Flüchtlingsunterkünften?
 
NK: Dort leben die sozial schwächsten Teile der Bevölkerung, Menschen die nicht arbeiten können, die keine wohlhabenden Angehörigen haben, Menschen, die aus eigener Kraft nicht aus der Not kommen.
 
JK: Was bietet ihr diesen Leuten ausser der Unterkunft sonst noch?
 
NK: Zu unserem Team gehören eine Ärztin und eine Juristin, die die Personen in den Notunterkünften unterstützen. Unsere Ärztin Tanja berät die einheimischen Krankenschwestern und Ärzte, unsere Juristin Genia hilft den Geflüchteten, damit sie die ihnen zustehende Unterstützung vom Staat bekommen. Die alten Leute sind sehr benachteiligt. Mit der staatlichen Unterstützung können geflüchtete Pensionisten in Transkarpatien keine Wohnung mieten. Die Mieten waren hier immer schon vergleichsweise hoch, seit Kriegsbeginn sind sie zusätzlich stark angestiegen. Wir sehen schon jetzt, dass in den Flüchtlingsunterkünften bald nur mehr alte Leute leben werden. Auch wenn der Krieg irgendwann zu Ende geht – diese Menschen werden es nicht mehr erleben, dass die zerstörten Wohnungen in ihrer Heimat wieder aufgebaut werden. Leider denkt hier niemand daran, was das längerfristig für unsere Region bedeutet und dass wir dringend passenden Wohnraum für Menschen mit eingeschränkter Mobilität schaffen müssen, auch Altersheime mit der entsprechenden Betreuung.
 
JK: Wie sieht es mit der Betreuung von kriegstraumatisierten Menschen aus?
 
NK: Zunächst lief das alles ziemlich chaotisch. 2022 sprachen plötzlich alle von psychologischer Betreuung. Verschiedene lokale Organisationen haben ziemlich viel Unterstützung von internationalen Geldgebern dafür bekommen. Das war sehr in Mode, aber die lokalen Organisationen waren eigentlich für diese Arbeit nicht qualifiziert. Wir haben daher Ende 2022 Online-Koordinationstreffen zwischen den verschiedenen Organisationen initiiert, sie finden nun alle zwei Wochen statt. Mehrere dieser Initiativen können zum Beispiel nur leicht traumatisierten Menschen helfen. Wenn sie sehen, dass ein Patient unter einer schweren psychotischen Störung leidet, übergeben sie ihn an eine spezialisierte Institution. Es hat fast ein Jahr gedauert, aber jetzt funktioniert diese Zusammenarbeit sehr gut.
Erst vor kurzem hat Zelensky die psychologischen Betreuung von kriegstraumatisierten Menschen durch staatlichen Institutionen verordnet. Zum Glück ist bei uns in der Oblastverwaltung eine Frau für die Umsetzung zuständig, die wir seit vielen Jahren kennen. Jetzt haben wir damit begonnen, auch die staatlichen Strukturen in unsere Koordination mit einzubinden, also auch in die Schulen. Der nächste Schritt wird die Einrichtung spezialisierter Kliniken sein, daran arbeiten wir jetzt. Und schliesslich müssen wir auch an die Psychiatrie denken, aber dafür muss ich mich von allen anderen Projekten freimachen, um in Ruhe darüber nachzudenken.

Foto unten: Das Team des CAMZ beim Verschicken von Hilfsgütern 

JK: In unserer Region ist es problematisch, dass die Einheimischen sich nicht in die Lage der geflüchteten Menschen versetzen können. Sie haben nicht dieselben traumatisierenden Erfahrungen gemacht und vielen fehlt es an Empathie. Wie geht ihr damit um?
 
NK: Ja, das stimmt natürlich, daher haben wir geflüchtete Menschen angestellt. Unsere beiden Flüchtlingsheime in Uzhhorod und in Tyachiv werden von Kriegsflüchtlingen geleitet, in Tyachiv zum Beispiel von einem Ehepaar aus Svatove in Luhansk. Der Chef unseres Lagers für Hilfslieferungen ist auch ein Flüchtling, aus Charkiw. Sie sprechen dieselbe Sprache, und haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie können sich auch sehr direkte Sachen sagen, ohne dass jemand gleich beleidigt ist. Denn die Beziehung der Einheimischen zu den geflüchteten Menschen ist wirklich ein Problem.
 
JK: Hast Du den Eindruck, dass diese Probleme sich mit der Zeit noch verschärfen?
 
NK: Ja, zu einem gewissen Grad. Besonders kritisch sehe ich die Haltung der internationalen Organisationen. Die Einheimischen fühlen sich benachteiligt, wenn Hilfe einseitig nur an geflüchtete Menschen geht, und manchmal hat man den Eindruck, dass es diesen eigentlich gar nicht so schlecht geht. Das muss unbedingt vermieden werden. Unsere Programme der Kinderbetreuung zum Beispiel sind offen für Alle, auch wenn die Geldgeber ursprünglich wollten, dass wir Geflüchtete bevorzugen. Damit helfen wir den geflüchteten Kindern auch, aus dem Ghetto auszubrechen in dem sie sich befinden. Schon vor dem Krieg waren wegen Covid die meisten von ihnen lange Zeit im Online-Unterricht. Dann mussten sie flüchten und besuchen weiter online ihre Schule, zum Beispiel eine virtuelle Schule von Bachmut. Nachdem sie den Sommer zusammen mit einheimischen Kindern verbracht haben, motiviert sie das vielleicht, hier in eine ganz normale Schule zu gehen. Das ist sehr wichtig, denn es wird immer offensichtlicher, dass viele Familien hier bleiben, die Kinder sollten sich ins lokale Leben integrieren.
 
JK: Wieviele geflüchtete Personen leben jetzt in Transkarpatien?
 
NK: Die offizielle Statistik sagt, es seien 350‘000. Es gibt Schätzungen, die weit höher liegen, aber das scheint mir unrealistisch. Vermutlich sind es an die 400‘000 Menschen. (Vor dem Krieg lebten in Transkarpatien ca. 1‘1Mio Menschen).
 
JK: Wo sind diese Menschen? In Chust und vor allem in den umliegenden Dörfern habe ich nicht den Eindruck, dass die Bevölkerung stark zugenommen hat.
 
NK: In Uzhhorod sind sie nicht zu übersehen. Überall wird Russisch gesprochen und die Strassen sind voller Menschen und Autos. In den Dörfern gibt es halt auch die entgegengesetzte Bewegung. Über 50 Prozent der wehrtauglichen Männer sind im Ausland und nun ziehen auch die Familien nach. Im Kinderheim in Vilshany haben wir seit dem vergangenen Jahr 25 Mitarbeiterinnen verloren, beinahe ein Viertel. Ihre Männer, die im Ausland sind, setzen sie unter Druck, auch wenn sie nicht weg wollen.

JK: Während 19 Monaten Krieg habt Ihr mit zahlreichen ausländischen Organisationen zusammengearbeitet. Wie empfindest Du die Partnerschaft, ist der bürokratische Aufwand sehr gross?
 
NK: Wir arbeiten mit kleinen und mittelgrossen Organisationen, die relativ flexibel auf unsere Bedürfnisse eingehen, vor allem in Deutschland und in Frankreich. So können wir häufig auch spontan auf dringende Bedürfnisse reagieren. Zum Beispiel hat mich vor kurzem Nataliya Gumenyuk* angerufen, sie hat mir von einer Initiative aus Cherson erzählt. Sie haben im Gebiet des zerstörten Stausees von Nova Kachovka in einem Kindergarten eine Suppenküche eingerichtet, für die Menschen, die alles verloren haben. Es sind wunderbare, sehr engagierte Leute, aber sie haben kein Geld. Dank unserer Partner können wir hier sehr spontan aushelfen.
Aber leider gibt es auch eine negative Tendenz. Vor allem die staatlichen Geldgeber unterstützen nur mehr die ganz grossen, internationalen Organisationen, die in der Ukraine arbeiten, wie IOM oder das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR. Diese bürokratischen Monster bekommen alle Mittel und die kleinen, effizienten Initiativen gehen leer aus. Wenn wir die Botschaften kontaktieren erhalten wir die Antwort, dass alle Gelder bereits an diese grossen Organisationen vergeben wurden, zum Beispiel haben wir kürzlich vom Französischen Aussenministerium eine derartige Antwort erhalten. Im vergangenen Jahr hatten wir von ihnen noch eine dreimonatige Unterstützung erhalten.
Ich sehe diese Entwicklung sehr kritisch. Nach einer gewissen Zeit werden sich die grossen Organisationen zurückziehen, und dann bleibt nichts übrig. Dabei werden wir genau dann, wenn irgendwann der Krieg zu Ende geht, die lokalen NGOs dringend benötigen, um das Land wieder aufzubauen. Seit Kriegsbeginn haben sich viele lokale Initiativen gebildet. Diese sollten unterstützt werden, damit sie arbeiten und Erfahrungen sammeln können. Diese jungen Initiativen sind für die Ukraine von morgen extrem wichtig.
Meine wichtigster Ruf an die internationale Gemeinschaft und die internationalen Geldgeber ist, dass sie die Ukraine nicht mit einem Land der Dritten Welt verwechseln sollen. Hier gibt es schon lange eine sehr lebendige Zivilgesellschaft. Wenn wir diese nicht unterstützen, dann beeinträchtigen wir massiv die Fähigkeit der Ukraine, nach dem Krieg aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Wenn es diese Kapazität der Selbstorganisation zu Kriegsbeginn nicht gegeben hätte, dann wäre es bei der Ankunft der grossen ausländischen Organisationen im Mai 2022 schon zu spät gewesen.
* Nataliya Gumenyuk ist vermutlich die international am meisten profilierte Journalistin der Ukraine, sie hat auch schon mehrere Bücher auf Deutsch publiziert. Seit Beginn des Kriegs dokumentiert sie systematisch die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Link zu diesem Projekt (english)
 

Kontakt zu NeSTU:

Salome Stalder - Martin, Dipl Forst-Ing. ETH, Mürgstrasse 6, 6370 Stans

E-Mail: info(at)nestu.org. Natel: 078 770 23 43
Spendenkonto NeSTU:

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Jürgen Kräftner